Die ECIR ist eine jährlich stattfindende Konferenz für Experten im Bereich Information Retrieval, der wissenschaftlichen Grundlage aller Suchmaschinen. Deshalb könnten gerade SEOs vom Besuch dieser oder ähnlicher Veranstaltungen profitieren, denn hier gibt es das Wissen aus erster Hand. Daher ist es erstaunlich, dass man Teilnehmer aus dem Online-Marketing fast nie antrifft.
Ich wundere mich schon ein wenig, dass sich außer mir unter den circa 250 Teilnehmern der diesjährigen ECIR in Wien kein einziger SEO befunden hat – zumindest war keiner unter den zahlreichen Menschen, mit denen ich sprechen durfte. Dabei leuchtet es doch ein: Wo sonst, wenn nicht auf einer Veranstaltung, auf der Trends und News rund um Information Retrieval geboten werden, erhält man Wissen über die (zukünftige!) Arbeitsweise von Suchmaschinen direkt von der Quelle?
Bilder und Shoppingergebnisse beeinflussen Klickverhalten
Einige Beispiele gefällig? In einer Präsentation heute ging es um eine wissenschaftliche Arbeit von Jaime Arguello mit dem Titel "Improving Aggregated Search Coherence" (PDF). In dieser Arbeit wird beschrieben, wie verschiedene vertikale Suchergebnisse (Web, Bilder, Shopping, News etc.) in optimaler Weise auf den SERPs kombiniert werden können. Dabei zeigten sich vor allem Wechselwirkungen von Bildern und Shoppingergebnissen mit dem Klickverhalten von Webtreffern. Daraus kann man allerlei ableiten, zum Beispiel, dass es sinnvoll sein könnte, mit Ergebnissen in allen vertikalen Suchen präsent zu sein und damit zusätzliche Chancen auf Klicks zu erhalten. Diese so genannten Spill-over-Effekte treten in einer signifikanten Häufigkeit auf.
Der Kontext von Suchanfragen
Weiteres Beispiel: Der Kontext von Suchanfragen und dessen Auswirkungen auf die Suchergebnisse – Stichwort: „personalisierte Suche“. Vor allem die Definition, was alles zum Kontext einer Suche gehört, ist interessant: Der Kontext umfasst eben nicht nur die Zeit, der Ort oder die eingestellte Sprache. Im Grunde ist der Kontext beliebig komplex und kann eine riesige Menge an Dimensionen enthalten. Diese Dimensionen wiederum können von Suche zu Suche variieren – das heißt, dass für die eine Suchanfrage andere Dimensionen relevant sein können wie für eine andere. Und noch eine Frage stellt sich: Kann man mit dem Kontext alleine schon etwas anfangen, oder gehören auch immer Inhalte dazu (Suchanfrage, gefundene Dokumente)?
Spezialsuche: Gefahr für Hypochonder
Wer etwas über die Effekte von Suchmaschinen-Oberflächen auf das Nutzerverhalten wissen wollte, wurde auf der diesjährigen ECIR ebenso informiert wie diejenigen, die sich mit Spezialsuchen beschäftigen. Ein heikles Thema ist die Suche nach medizinischen Informationen. Untersuchungen haben ergeben, dass bei der Suche nach Symptomen die schwerwiegenden Krankheiten in den von Suchmaschinen gelieferten Ergebnissen überrepräsentiert sind – vor allem unter den Top-10-Ergebnissen. Diese Ergebnisse wiederum sind entscheidend für die weiteren Weichenstellungen beim Suchenden: Führt die Suche zu einer Eskalation, oder kommt es zu einer Beruhigung? Die Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass diese Entwicklung stark von den ersten geklickten Dokumenten abhängt. Ist dort von schweren Krankheiten als mögliche Ursache die Rede, ist eine Eskalation wahrscheinlicher als dann, wenn eher harmlose Ursachen zuerst gefunden werden.
Re-finding
Ein Problem, das wir alle kennen, ist das Suchen von Dingen, die wir früher schon einmal irgendwo gefunden oder gesehen haben. Zu diesem mit „Re-finding“ bezeichneten Phänomen gab es gleich mehrere Vorträge, die zeigten, dass in dieser Situation ein völlig anderes Suche-Verhalten an den Tag gelegt wird als normalerweise, unter anderem die Arbeit "Predidcting Re-finding Activity and Difficulty" (PDF) von Sargol Sadeghi et al. Das wäre ebenfalls einer Betrachtung durch die SEO-Brille wert, denn man kann sich dieses Wissen zu Nutze machen und auf die Bedürfnisse der „Re-finder“ eingehen, indem man ihnen zum Beispiel passende Einstiegsseiten bietet, von denen aus sie sich in die tieferen und spezielleren Ebenen navigieren können.
Vernachlässigte Probleme der Suchmaschinen
Eine der Keynote-Präsentationen drehte sich um bisher vernachlässigte Probleme von Suchmaschinen. Marti Hearst von der UC Berkeley in Kalifornien brachte das anschaulich auf den Punkt. Sie zeigte, dass derzeit vor allem die Suche nach Spezialthemen wie etwa in bestimmten wissenschaftlichen Bereichen, für die es noch keinen großen Dokumentenkorpus bei den Suchmaschinen gibt, oft noch keine befriedigenden Ergebnisse liefert. Oftmals wird auch die Intention der Suchenden nicht richtig erkannt: So werden tatsächlich nur Dokumente mit übereinstimmenden Textpassagen gefunden, die jedoch häufig eine andere Zielrichtung haben als vom Suchenden eigentlich gewünscht. Schwierig ist auch noch das Gebiet der kollaborativen Suche, bei der die Suchen und Suchergebnisse von mehreren Personen dargestellt werden. Die bisher verfügbaren Produkte kranken meist an einer suboptimalen grafischen Benutzeroberfläche.
Ein weiteres Suche-Thema, das bisher noch wenig im Blickpunkt steht, sind so genannte kontroverse Suche-Themen. Dabei geht es um Dokumente und Informationen, die zwar für sich beanspruchen, wahr zu sein, deren Wahrheitsgehalt jedoch fraglich ist. Shiri Dori-Hacohen von der University of Massachusetts erläuterte das unter anderem anhand des Beispiels "Zusammenhang von Impfungen und Autismus" und stellte Methoden vor, mit denen man recht zuverlässig kontroverse Suchergebnisse identifizieren kann. Die zugehörige wissenschaftliche Arbeit hat den Titel "Automated Contrroversy Detection on the Web" (PDF).
Forschung und Industrie vereint
Nicht zu vergessen ist das hochrangige Publikum auf Veranstaltungen wie der ECIR. Da es sich um eine internationale Veranstaltung von hohem Rang handelt, sind Vertreter aus der Wissenschaft und der Industrie von allen Kontinenten vertreten. Vor allem aus den USA und dem asiatischen Raum gab es viele Sprecher. Insbesondere das akademische Umfeld in den USA dürfte wiederum über gute Kontakte zur dortigen Unternehmenswelt verfügen (Google!!!) – mehr muss nicht gesagt werden. Es wundert also nicht, dass Unternehmen wie Google, Yahoo oder Yandex zu den Sponsoren der Veranstaltung zählen.
Was für SEOs besonders von Interesse sein dürfte, sind die eingesetzten wissenschaftlichen Methoden, mit denen die Forschungsergebnisse erlangt werden. Auch für SEOs sind Versuchsreihen sehr wichtig, wenn sie zum Beispiel auf die Auswirkung und die Gewichtung von Rankingfaktoren schließen wollen. Ich für meinen Teil habe jedenfalls vieles ausmachen können, was in der zukünftigen Arbeit von Nutzen sein wird.
Sicherlich, man kann einwenden, dass einiges auf dieser Konferenz vor allem dann hlifreich ist, wenn man über einen entsprechenden akademischen Hintergrund aus der Informatik verfügt. Dem kann ich jedoch entgegnen, dass ich mit einem absolvierten Betriebswirtschaftssudium den meisten Vorträgen dennoch gut folgen konnte. Unklare Begriffe habe ich mir notiert und werde sie später recherchieren. Bei der nächsten ECIR oder einer ähnlichen Veranstaltung werde ich dann einen noch besseren Einstieg haben als dieses Mal.
Gewiss ist der Besuch von Online-Marketing-Konferenzen für SEOs essentiell – der Erfahrungsaustausch in der Branche ist nicht zu ersetzen. Ich plädiere jedoch dafür, den Blick nicht einseitig auf das Online-Marketing zu richten, sondern über den Tellerrand zu schauen und sich mehr mit den Grundlagen der Suchmaschinen zu beschäftigen, nämlich dem Information Retrieval. Und wer weiß: Vielleicht sieht man sich ja bei der nächsten ECIR im Jahr 2016…